Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: Ein Überblick

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Ist der Arbeitnehmer krank, legt er bei seinem Arbeitgeber eine vom Arzt ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Durch die Übermittlung dieses Dokuments wird in der Regel der Beweis der Arbeitsunfähigkeit geführt (§ 5 Abs. 1 S. 2 EFZG bzw. § 5 Abs. 1a S. 2 EFZG). Es handelt sich also um ein wichtiges Beweismittel. Jedoch gibt es auch Umstände, unter denen der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert werden kann. Wann genau das der Fall ist und wann nicht, lesen Sie in diesem Beitrag.

Erschütterung des Beweiswertes wegen Zweifels an der Erkrankung

Hat der Arbeitgeber Zweifel an der Erkrankung, kann er den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch entkräften, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und gegebenenfalls beweist, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben. Gelingt das dem Arbeitgeber, muss der Arbeitnehmer wiederum fundiert darlegen und beweisen, dass er sehr wohl arbeitsunfähig war. Das kann z.B. durch die Vernehmung des behandelnden Arztes nach entsprechender Befreiung von der Schweigepflicht erfolgen.

So sieht das auch das Bundesarbeitsgericht (BAG). Die Richter der höchsten Instanz im Arbeitsrecht haben am 8. September 2021 - 5 AZR 149/21) entschieden, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung besonders dann erschüttert sein kann und ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit bestehen, wenn ein Mitarbeiter sein Arbeitsverhältnis kündigt und am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben wird und zwar genau dann, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst. So nach dem Motto „Ich bin dann mal weg“! So auch LAG Schleswig-Holstein vom 02.5.2023 - 2 Sa 203/22 und LAG Niedersachsen vom 8.3.2023 - 8 Sa 859/22 und vom 22.2.2023 - 8 Sa 713/22 (bei einem befristeten Arbeitsverhältnis).

Im Anschluss an dieses Urteil sind auch an anderen Gerichten Entscheidungen ergangen, die Hinweise dafür enthalten, wann eine Erschütterung des Beweiswertes anzunehmen ist und wann nicht.

Erschütterung des Beweiswertes auch bei Erst- und Folgebescheinigungen

In diesem Sinne hat das Arbeitsgericht in Neumünster entschieden (v. 23.9.2022 - 1 Ca 20b/22). Danach können sich ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Erkrankung daraus ergeben, dass eine am Folgetag der Eigenkündigung des Arbeitnehmers ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckt. Das gilt auch dann, wenn die gesamte Dauer der verbliebenen Kündigungsfrist durch eine Erst- und mehrere Folgebescheinigungen abgedeckt wird.

Keine Erschütterung des Beweiswertes

Auch zu der Frage, in welchen Fällen der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht entkräftet werden kann, finden sich Leitsätze im Tenor diverser Rechtsprechungen. Das LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 21.3.2023 - 2 Sa 156/22 sowie v. 8.2.2023 - 3 Sa 135/22 hat entschieden: Objektiv mehrdeutige, plausibel erklärbare Sachverhalte (z.B. der Eindruck eines aufgeräumten Büros oder das Liegenlassen von Büroschlüsseln) sind in der Regel nicht geeignet, ernsthafte Zweifel an einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu begründen. Will ein Arbeitgeber dementsprechend mit der Entfernung privater Gegenstände aus dem Betrieb nachweisen, dass ein Mitarbeiter seine Arbeitsleistung nicht mehr erbringen wollte, muss er die Dinge benennen, welche der Arbeitnehmer mitgenommen hat. Mit der allgemeine Behauptung, dass private Gegenstände fehlen, kann der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht erschüttert werden.

Auch wenn wir oben gesehen haben, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die den Zeitraum vom Tag der Kündigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist umfasst, der Beweiskraft des Dokuments widersprechen kann, kommt es – wie eigentlich immer – ganz auf den Einzelfall an. Nicht jede Krankmeldung während der gesamten Kündigungsfrist erschüttert den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Bei genauerem Hinsehen hatte der Arbeitnehmer im Fall LAG Niedersachsen v. 8.3.2023 - 8 Sa 859/22 zwar genau diesen Zeitraum mit seiner Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung abgedeckt. Aber: Der Mitarbeiter war bereits einige Tage krank, bevor er die Kündigung erhielt. Dementsprechend fehlte der sogenannte “Kausalzusammenhang“ zwischen Kündigung und Krankmeldung. Der Beweiswert konnte in diesem Fall nicht erschüttert werden.

Ebenso die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses krankgeschrieben ist, unmittelbar einen Tag später jedoch wieder gesund ist und bei einem anderen Arbeitgeber anfängt zu arbeiten, entkräftet ohne die Darlegung weiterer Umstände den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen normalerweise nicht.

Folgen der Erschütterung des Beweiswertes

Zu den Folgen der Erschütterung des Beweiswertes hat das BAG in der oben genannten Entscheidung vom 8.9.2021 ausgeführt:

"Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substanziierter Vortrag z.B. dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden (.). Der Arbeitnehmer muss also zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Soweit er sich für die Behauptung, aufgrund dieser Einschränkungen arbeitsunfähig gewesen zu sein, auf das Zeugnis der behandelnden Ärzte beruft, ist dieser Beweisantritt nur ausreichend, wenn er die Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbindet."

Ändert die neue elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung etwas am Beweiswert?

Auch wenn gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer ihrem Arbeitgeber seit dem 1. Januar 2023 kein physisches Dokument mehr vorlegen müssen, bleibt der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich erhalten. Die elektronische Übermittlung der Daten an den Arbeitgeber soll als entsprechender Ersatz dienen. Die Papierbescheinigung bleibt aber vorerst als gesetzlich vorgesehenes Beweismittel mit hohem Beweiswert erhalten. Aus diesem Grund sollten Beschäftigte die ausgedruckte Bescheinigung auch weiterhin immer aufbewahren. Damit bleibt ihnen mit der Papierbescheinigung und der Original-Unterschrift des Arztes der hohe Beweiswert erhalten. Die vollständige Ablösung der Papierbescheinigung ist erst zu erwarten, wenn es ein gleichwertiges elektronisches Äquivalent gibt.

13. Juli 2023

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