Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen v. 28.02.2024 - 2 Sa 375/23
Der Fall
Ein 26-jähriger war Auszubildender (Elektroniker für Automatisierungstechnik) eines Autoherstellers und nahm im Sommer 2022, zusammen mit anderen Auszubildenden, an einer Bildungsurlaubsmaßnahme teil. Nachdem einige aus der Gruppe ein Volksfest besucht und Alkohol getrunken hatten, gingen sie spätabends noch in ein Schwimmbad. Dort legte der Auszubildende seinen Arm um die 19-jährige einzige weibliche Auszubildende, berührte ihre Brust und machte Kussbewegungen in Richtung ihres Kopfes. Als dieser Vorfall der Personalabteilung bekannt wurde, kündigte das Unternehmen das Ausbildungsverhältnis mit dem angehenden Elektroniker fristlos.
Die Klage
Hiergegen klagte der Auszubildende – allerdings ohne Erfolg. Denn laut Arbeitsgericht Braunschweig (1. Instanz) war sein Verhalten eine sexuelle Belästigung im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), die geeignet sein kann, als Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Zudem gilt im Betrieb eine Gesamtbetriebsvereinbarung „Partnerschaftliches Verhalten“ sowie eine Arbeitsordnung, derzufolge sexuell übergriffiges Verhalten als „Störung des Betriebsfriedens“ eingestuft wird.
Grundsätzliches Verhalten in der Freizeit
Aber können nicht Auszubildende und Arbeitnehmer in ihrer Freizeit grundsätzlich tun und lassen, was sie möchten? Normalerweise ja, es gibt jedoch Ausnahmen, so das LAG Niedersachsen. Und so fand der Auszubildende auch in der 2. Instanz kein Gehör. Das Gericht stellte klar, dass auch eine einmalige sexuelle Belästigung einer Azubi-Kollegin außerhalb der Arbeitszeit einen wichtigen Grund zur Kündigung des Berufsausbildungsverhältnisses (§ 22 BBiG) darstellen kann. Das gilt laut Urteil insbesondere, wenn das Verhalten negative Auswirkungen auf den Betrieb oder einen Bezug zum Arbeitsverhältnis hat. Hinzu kommt in diesem Fall, dass das Unternehmen ein eigenes schutzwürdiges Interesse daran hat, einen respektvollen Umgang in der Belegschaft und auch unter Praktikanten und Auszubildenden sicherzustellen. Der Arbeitgeber selbst und Ausbilder im Unternehmen sind nach § 12 Abs. 1 und 3 AGG darüber hinaus gesetzlich verpflichtet, ihre Beschäftigten vor sexuellen Belästigungen zu schützen.
Rechtmäßigkeit der Kündigung
Doch hätte man hier tatsächlich direkt kündigen müssen? Ja – so das Urteil. Die Maßnahme verstößt in diesem Fall nicht gegen das „Ultima-Ratio-Prinzip“. Zwar kann eine fristlose Entlassung immer nur in Betracht gezogen werden, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Davon gingen die Richter jedoch in diesem Fall aus. Denn: Erstens war der Auszubildende zum Zeitpunkt des Geschehens nahezu 26 Jahre alt und kann sich nicht auf mangelnde Reife oder Alkoholkonsum berufen. Zweitens hatte er geäußert, seine Kollegin „solle sich nicht so anstellen“, was zeigt, dass er von weiblichen Auszubildenden erwartet, dass sie seinen sexuellen Zudringlichkeiten nachgeben oder sie zumindest dulden. Angesichts der Schwere der Vertragspflichtverletzung und dem damit einhergehenden Vertrauensverlust, so das Fazit des LAG, kann vom Arbeitgeber nicht verlangt werden, zuerst als milderes Mittel nur eine Abmahnung auszusprechen.